Das Projekt

Während der Räumung meines Elternhauses in Göttingen bin ich auf 49 Tagebücher und Notizen meines Stiefvaters Prof. Dr. Hubert Wilbert gesto­ßen. Ich habe sie in einem stark verschmutzten und maroden Zustand ungeschützt in einer offenen Kiste im hintersten Winkel des Dachbodens gefunden, mit vielen toten und fast toten Insekten darin. Ironie des Schicksals: Hubert war Professor der Entomologie.

Bei Ausbruch des zweiten Weltkriegs war Hubert 13 Jahre alt. In seinen Tagebüchern beschreibt er in minutiöser und sachlicher Art die Kriegshandlungen in seiner Heimatstadt Münster/Westfalen. Sein au­thentischer Bericht beginnt in noch etwas kindlicher Handschrift am 01. September 1939 mit den Worten: „1. September. Der Krieg Deutschland – Polen be­ginnt.“

Seite aus einem Tagebuch

Seite aus einem Tagebuch

Von da an berichtet er über jeden Bombenangriff auf Münster (mit exakten Zeitangaben!), wann zu Bett gegangen, wann Fliegeralarm, wann wieder runter in den Keller, welche Bomben fallen, wie die aussehen, wie die sich anhören, welchen Krater wel­che Bombe macht, wer wann wo genau getroffen wurde und vieles mehr. Zeichnungen, wie die Bom­ben aussehen, was er konkret gesehen hat und was das OKW (Oberkommando der Wehrmacht) später im Rundfunk dazu berichtet. Hubert erstellt Tabellen und Listen mit akademischem Anspruch und erlaubt dem Leser ein tiefes Eintauchen in seine Zeit.

Huberts Tagebücher– über 3.600 Oktavheftseiten (teilweise auch dicke Hefte und gekritzelte Listen) – stellen ein seltenes, wenn nicht einzigartiges zeit­geschichtliches Dokument dar, insbesondere vor dem Hintergrund, dass er krankheitsbedingt nie bei den kämpfenden Einheiten war. Private Kriegstage­bücher gibt es ohnehin eher wenige, da eine Führung derartiger Tagebücher aus Geheimhaltungsgründen streng verboten war.

Seine individuellen Eindrücke einer in höchstem Maße schwierigen Zeit spiegeln die zum damaligen Zeitpunkt vorherrschenden Ansichten eines besieg­ten, am Boden zerstörten Volkes. Wut, Zorn, Angst, Verzweiflung und Trauer können nachfolgende Ge­nerationen wohl nur erahnen. Ich kann ich berich­ten, dass Hubert aus der späteren zeitlichen Distanz manche Ereignisse seines Lebens anders bewertete und neu einzuordnen wusste. Diese Tagebücher ei­nes Jungen, der zu Hause blieb und den Pflichtdienst im RAD (Reichsarbeitsdienst) versah, sind daher et­was Außergewöhnliches. Es ist mein Wunsch, dass diese Aufzeichnungen für Schüler, Studenten und alle Interessierten frei zugänglich sind.

Die Tagebücher wurden handschriftlich in „Sütter­lin“ verfasst und sind für mich nur sehr schwer oder nicht lesbar. Ich habe deshalb alle Seiten zunächst fotografisch reproduziert und danach transkribieren lassen.

Skizze einer Flugzeugstaffel

Auszug aus den Tagebüchern

Zu ganz besonderem Dank verpflichtet bin ich Herrn Ernst-Peter Winter vom Heimat- und Geschichts­verein Münster e.V. (Münster in Hessen): Er hat die Texte nicht nur in die aktuelle deutsche Schrift tran­skribiert, sondern auch viele Originalschauplätze auf historische und geografische Richtigkeit hin über­prüft.

Ohne seine Kenntnisse der alten Kurrentschrift und seinen unermüdlichen Fleiß verbunden mit akri­bischer Genauigkeit wäre die nachfolgende Darstel­lung der Tagebücher wohl nicht möglich gewesen. Ernst-Peter Winter, Jahrgang 1953, betreibt seit über 40 Jahren Familienforschung (Genealogie) und leitet seit über 10 Jahren einen monatlich stattfindenden Lesekreis „Alte Schriften”.

In dieser Dokumentation stehen die Reproduktionen der einzelnen Seiten den transkribierten Texten ge­genüber.

Andreas Becker, im Juli 2017